Winke noch ein Weilchen!
Veröffentlicht am 16. März 2008
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Doch ein schlichtes „Es ist aus“ würde manchmal reichen: Sibylle Berg hat Abschiedsbriefe von Männern gesammelt.
Nachdem Charles Baudelaire sie fünf Jahre lang umworben hatte, verbrachte Apollonie Sabatier endlich eine Nacht mit ihm. Gut möglich, dass die stadtbekannte Pariser Künstlermuse zu diesem Zeitpunkt bereits ahnte, was als Nächstes passieren würde: Mit der Erfüllung eines Traums versiegt für den Künstler eine Quelle der Inspiration. Schlimmeres kann ihm kaum passieren! Also schrieb Baudelaire ihr gleich am nächsten Tag einen dieser überflüssigen Abschiedsbriefe – überflüssig deshalb, weil sie in Wahrheit alles andere als ein Ende zum Ausdruck bringen. Da heißt es: „Leben Sie wohl, liebste Liebste!“ Und ein paar Zeilen weiter: „Sie müssen mir schreiben, denn ich habe Ihnen noch so viele andere Dinge zu sagen.“ Er verabschiedete sich, ohne wirklich Schluss zu machen, was leicht passieren kann, wenn man verliebt ist.
Vor zwei Jahren hat Sibylle Berg Abschiedsbriefe von Frauen herausgegeben, nun sind die Männer an der Reihe. Das ist nur gerecht, denn nachdem der erste Band vor allem verlassene Frauen zu Wort kommen ließ, ist es höchste Zeit festzustellen, dass Männer nicht zwangsläufig Schurken sind. Der Titel des Buchs: „Das war’s dann wohl“ nimmt den lakonischen Tonfall mancher Briefautoren auf. Einige ihrer Namen hat man noch nie gehört, andere kennt man: „Rammstein“-Sänger Till Lindemann trennt sich von seinem Haustier und will „keinen Hund mehr oder so“. Wiglaf Droste sagt sich von einer Sushi-Esserin los: „Oh Gabi! Sakes! Wasabi Dir nur angetan?“ Moritz Rinke sagt dem Rechtsstaat ade, und Franz Müntefering verkündet seinen Rücktritt.
„Irgendwann beginnt jeder Mensch, Abschiede zu hassen“, schreibt Sibylle Berg im Vorwort. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit, denn manche Briefeschreiber genießen das Abschiednehmen auch: Freudvoll geben sie sich ihren leidvollen Gedanken hin und produzieren so eine Art von Literatur, die nicht mit dem Nachruf zu verwechseln ist: Jemand steht zwar am Abgrund, springt aber noch nicht. Der Journalist Tom Kummer sieht sich von seinen Kollegen „vom Hochhaus gestoßen“ und ruft dennoch begeistert aus: „May the force be with me!“ Ein Triumphschrei, völlig an der Realität vorbei!
Besonders spannend sind die Liebesabschiede: Baudelaire führt eine ganze Riege von Männern an, die sich weder für noch gegen eine Frau entscheiden. Im Idealfall wäre die Geliebte abwechselnd fort und dann wieder da, so wie das von Sigmund Freud in „Jenseits des Lustprinzips“ erwähnte Spielzeug seines Enkels: Immer wieder wirft das kleine Kind eine Spule an einer Kordel so weit weg, dass sie hinter einem Vorhang verschwindet, und zieht sie dann energisch zu sich zurück. Freud erkannte darin den Versuch des Kindes, die Abwesenheit der Mutter zu überwinden, eine Ersatzhandlung: Einmal an der Kordel gezogen, und das verlorene Objekt kehrt zu ihm zurück. Diese Geste deutet sich an, wenn sich noch Liebende Abschiedsbriefe schreiben. Das Wort liefert die Kordel.
Ein schlichtes „Es ist aus!“ würde reichen. Aber stattdessen entstehen seitenlange Abhandlungen, und mit jeder Äußerung kommt man einander im Geiste schon wieder näher. Der Wunsch, den anderen zu verletzen, ist dabei ebenso groß wie die Sorge, man könnte ihm wirklich weh tun. Kennen Sie dieses Heine-Gedicht? „Der Brief, den Du geschrieben, / er macht mich gar nicht bang. / Du willst mich nicht mehr lieben, / aber Dein Brief ist lang. // Zwölf Seiten, eng und zierlich, / ein kleines Manuskript. / Man schreibt nicht so ausführlich, / wenn man den Abschied gibt.“ Mit jeder Zeile schwindet die Entschlusskraft: Soll’s das wirklich schon gewesen sein?
Gern hält man dem geliebt-gehassten Menschen die Tür noch einen Spaltbreit offen: „Vieles war gut, manches unerträglich.“ Man kann sich vorstellen, wie solche Bemerkungen ankommen: So also sieht er das! Der wird sich wundern! Und schon wird ein weiterer Brief formuliert, das Ende der Beziehung rückt in die Ferne. Dabei täuscht selbst das deutlichste „Was Du wissen solltest . . .“ nicht darüber hinweg, dass es in Wahrheit vielmehr um das eigene beschädigte Ich geht, das beim Schreiben mit sich selbst ins Reine zu kommen versucht: „Nicht ich, sondern Du bist das Problem . . . Winken wir uns also noch eine Weile zu?“
Manchmal vermittelt der sprunghafte Wechsel zwischen komischen und tragischen Briefen den Eindruck einer Balance, die in Wahrheit reine Schieflage ist: Kleist verabschiedet sich kurz vor seinem Selbstmord von seiner Schwester, Walter Benjamin übermittelt auf der Flucht einer Bekannten seine letzte Botschaft an Adorno, ein Mitglied der Weißen Rose sieht der Exekution entgegen. Diese Texte in die Nähe des Briefs an einen Hamster zu stellen ist ähnlich heikel wie manch einer der lakonischen Kommentare von Sibylle Berg: „Vielleicht ist der Tod unser aller Belohnung.“
Wie blanker Hohn wirkt diese Aussage angesichts des wohl traurigsten aller Briefe. Alain Delon hat ihn kurz nach ihrem Tod an Romy Schneider geschrieben. Noch einmal lässt er sie in ihrer Schönheit erstrahlen, noch einmal holt er sie zu den Lebenden zurück: „Ich schaue Dich an. Ich liebe Dich, mein Püppchen.“ Aber sie wird nicht mehr antworten. Es bleibt nur die Erinnerung: Der Abschiedsbrief verzögert, bevor Neues beginnt.