Im Laufschritt zum Laufsteg
Veröffentlicht am 15. April 2007
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Derzeit wird wieder nach „Germany’s Next Topmodel“ gesucht. Aber die Show hat mit der Realität nicht viel zu tun. Hier schreibt ein Ex-Model, wie es in der Branche wirklich zugeht.
Ach Heidi! Jetzt suchst Du also schon zum zweiten Mal nach „Germany’s Next Topmodel“. Das ist zwar ganz originell, aber hinter den Kulissen ist doch allen klar, dass selbst die Gewinnerin der Casting-Show noch einen langen Weg vor sich hat, falls sie überhaupt jemals in die Riege der „Top Models“ aufsteigt. Die Kandidatinnen träumen von der großen Karriere und brechen in Tränen aus, wenn am Ende der Sendung einige von ihnen wieder nach Hause geschickt werden. Wie zur Rechtfertigung dieses Debakels stellt die Jury dann fest, dass das „wahre“ Model-Leben „noch härter“ sei als die inszenierte Variante. Ist das so? Wie sieht ein Model-Leben in Wirklichkeit aus?
Noch während der Schulzeit wurde ich an einem südfranzösischen Strand als Model entdeckt und reichte nach dem Abitur einige Bilder bei einem Model-Wettbewerb der „Elle“ ein, den ich zu meiner Überraschung gewann. Kurze Zeit später, im Oktober 1995, fand ich mich prompt in einer Modenschau von Jean-Paul Gaultier wieder. Es war meine erste Show, und ich durfte zusammen mit einigen Supermodels defilieren, darunter Kate Moss und Linda Evangelista. Ich war ziemlich aufgeregt. Das Model-Leben ist auf jeden Fall nichts für Angsthasen. Auf einem der luftigen Gewänder, die ich vorzuführen hatte, war ein lebensgroßes Skelett aufgemalt. Meine Haare wurden zu Rastalocken verknotet und orangefarben angesprüht. Sie wieder zu waschen und zu glätten kostete meine Mutter und mich in der darauffolgenden Nacht Stunden. Am nächsten Tag hatte ich einen Job für die „Elle“ in Paris und am übernächsten für die Zeitschrift „ID“ in London. Die Nacht dazwischen verbrachte ich im Club „Le Palace“, da ich mein Taschengeld schon ausgegeben und nun keines mehr für eine Unterkunft hatte. Das war der Anfang meines Zigeunerlebens.
Als Model ist man wirklich ständig unterwegs. Ich erinnere mich, wie ich eines Tages gerade aus New York in Paris angekommen war und für einen Job gleich wieder die Rückreise antreten musste. In solchen Fällen hat man am besten einen Stoffbären, eine große Flasche Cola und das Foto eines geliebten Menschen bei sich. Der Rest des Gepäcks verliert an Bedeutung. Hauptsache, du kommst selber noch mit. Als ich mal bei meinen Eltern zu Besuch war, verschwand meine Mutter kurz zum Einkaufen. Bei ihrer Rückkehr fand sie nur noch einen Zettel im Hausflur vor: „Unterwegs nach Cornwall, British Marie Claire, viele Grüße.“ Eine Bekannte von mir, das Top-Model Karen Ferrari, hatte eine Zeitlang außer ihrer Kreditkarte nur eine weiße Plastiktüte dabei, in der sie ihre Siebensachen um den Globus trug. Leichtes Gepäck macht nämlich ungemein frei und vereinfacht die Flucht nach vorn: das Verschwinden in Taxis, Flugzeugen, Fotostrecken.
Je erfolgreicher ein Model ist, desto mehr ist es auf Reisen: Wer gerade oben steht, wird oft an einem einzigen Tag in mehreren Ländern angefragt. Die „Model-Booker“ notieren die verschiedenen Optionen und entscheiden fast immer erst in letzter Sekunde, welchen Auftrag ihr Schützling annehmen soll. Am Telefon diktieren sie einem noch die allernötigsten Informationen in den Notizblock, und am Schluss heißt es nur noch: „lauf!“ oder „fonce!“ oder „run!“ Für die Booker geht es dabei um eine Abwägung zwischen Prestige und Geld: Einerseits werden möglichst solche Aufträge gesichert, die ein Model bekannt machen – also Fotoaufnahmen für anerkannte Designer und Magazine. Andererseits sind auch Katalog- und Werbekunden wichtig, denn mit ihnen wird das Geld verdient. Während ein Model für eine edle Illustrierte oft überraschend preiswert zu haben ist, wird einem großen Versandhaus jede einzelne Überstunde in Rechnung gestellt.
Immer wieder werden wir Models danach gefragt, was wir verdienen, und können eigentlich keine klare Antwort geben, denn die Einkünfte schwanken stark. Die Gagen werden für jeden einzelnen Job ausgehandelt. Faustregel ist: Kampagnen bringen viel Geld, Kataloge mittelviel, Zeitschriften wenig. Der Kunde bezahlt die Agentur, und die behält von dieser Summe erstmal rund zwanzig Prozent als Provision ein. Vom Rest der Einnahmen werden dem Model zunächst sämtliche Unkosten abgezogen, die der Agentur für die Vermittlungsarbeit entstehen: Ausgaben für Fotokopien oder Federal-Express-Sendungen, für Fahrer, Flüge und Hotels. Als ich mich eines Tages bei meiner New Yorker Agentur meldete und um die Überweisung einer größeren Geldsumme bat, bekam ich zur Antwort: „Sorry, darling, we’ve spent it all.“ Pech gehabt!
Neulich klagten bei „Germany’s Next Top Model“ ein paar Mädchen während der Arbeit über Kälte und Müdigkeit: willkommen in der Realität! Als Model wirst du nämlich nicht nur für dein Aussehen bezahlt, sondern auch dafür, dass du selbst in schwierigen Situationen immer gute Laune versprühst. Da sitzt du dann nach nur drei Stunden Schlaf auf dem Rücken eines südfranzösischen Wildpferdes, ohne je geritten zu sein – bitte lächeln! Liegst in Bikinis stundenlang auf kalten marokkanischen Fliesen, während dir ständig Sandkörner in die Augen wehen – hurra! Lässt dich im vietnamesischen Monsunregen fotografieren, wobei dein Kleid immer transparenter wird – Haltung wahren! Fotoreisen sind überhaupt ziemlich anstrengend. Das Team steht regelmäßig um vier Uhr auf, weil am frühen Morgen die Lichtverhältnisse am besten sind. Wer deshalb zeitig ins Bett will, anstatt abends auszugehen, gilt schnell als Spielverderber und wird bei nächster Gelegenheit womöglich nicht mehr gebucht.
Ein Härtetest sind auch die Modenschauen, die ziemlich kurz nacheinander in New York, London, Mailand und Paris stattfinden. Wer in Frankreich ankommt, geht meist schon ziemlich auf dem Zahnfleisch, denn jede einzelne dieser Veranstaltungen versetzt alle Teilnehmer in den absoluten Ausnahmezustand: Die Agenturen stehen geradezu kopf, die Designer halten von früh bis spät Castings und Anproben ab, und wenn die Schauen endlich beginnen, erhöhen die Moderedakteure mit ihren Sonderwünschen den ohnehin schon bestehenden Termindruck. Ein Entkommen ist ausgeschlossen, denn immer ist ein Fahrer an deiner Seite, der dich von Termin zu Termin bringt – am besten auf dem Motorrad, weil man damit im stockenden Großstadtverkehr am schnellsten vorankommt. Bei der Modenschau selbst kümmern sich mehrere Leute gleichzeitig um Haare und Make-up, und du musst so lange stillsitzen, bis das Spektakel endlich beginnt: Hinter der Bühne werden die Namen der Mädchen durcheinander gerufen, dann stakst eines nach dem anderen gelassenen Blickes am Publikum vorbei. Doch kaum ist es wieder hinter den Kulissen, verfällt es in einen hektischen Laufschritt, um möglichst rasch bei den studentischen Anziehhilfen zu sein, die den fliegenden Kleiderwechsel besorgen. Die Stimmung ist hektisch, öfters kommt es zu Pannen: Für die Designerin Sonia Rykiel bin ich auf dem kreisförmig angelegten Laufsteg aus Versehen mal in die falsche Richtung gegangen; die Kolleginnen kamen mir plötzlich entgegen. Das Topmodel Christina Kruse ist bei einer Show im „Ritz“ aus Versehen mal „vom Weg abgekommen“ und stand plötzlich auf der Straße. Mir ist es mal ähnlich ergangen. Da irrte ich nach einem „Fitting“ für eine Show im Hause Chanel herum, wählte den falschen Ausgang und löste Notalarm aus. Karl Lagerfeld selbst, der mich als „la petite orange“ ansprach (ich trug einen orangefarbenen Pulli), rief irgendeinen Hausmeister zu Hilfe. Und in New York kleckste ich bei einer „Joop“-Schau roten Lippenstift auf ein weißes Kleid, an dem eine nervöse Stylistin anschließend so lange herumrubbelte, bis ich alle weiteren Auftritte auch noch verpasst hatte.
Aber trotz mancher missratenen Situation: Es war eine schöne und aufregende Zeit. Die Modewelt ist ein großer Kinderspielplatz, die Akteure sind spontan, impulsiv, immer ist irgendwas los! Inzwischen sind ein paar Jahre vergangen, ich habe Literaturwissenschaft studiert, mit Kafka auf den „Prozess“, mit Beckett auf „Godot“ und auch sonst recht viel gewartet. Zwischendurch holt mich immer mal wieder die Vergangenheit ein – zum Beispiel, wenn im Fernsehen „Germany’s Next Topmodel“ läuft. Gerade weil die Sendung nicht viel mit der Realität zu tun hat, bekomme ich dann Lust, den ganzen Wahnsinn einer richtig guten Schau-Saison noch einmal mitzuerleben. Natürlich nicht mehr als Model, sondern diesmal als Redakteurin. Schon sehe ich mich im Geiste wieder einen dieser Zettel schreiben, die man bei einem stürmischen Aufbruch hinterlässt: „Bitte Blumen gießen, bin ab nach Paris.“