Mit Kati in Paris

Veröffentlicht am 27. Oktober 2012



Frankfurter Allgemeine Zeitung (Magazin „Z“)

Bei der Couture mit dem Aufsteiger-Model des Jahres.

Für die Couture ist sie hierher gekommen. Die Designer in Paris präsentieren die hohe Schneiderkunst für Herbst und Winter. Die Sonne zeigt sich nur selten, aber trotzdem ist es warm in den Straßen. Kati Nescher sitzt im Café „Le Coq“ an der „Place du Trocadéro“ und kühlt sich mit einem Eiswürfel das Gesicht, als ob sie erst einmal runterkommen müsste von diesem Karrieretempo.

Sie ist eines der neuen Chanel-Mädchen, vor zwei Tagen ist die Kampagne erschienen. Jetzt wollen alle sie buchen. Eben ist sie für Armani gelaufen. Und am Vormittag zweimal für Chanel. Call-time für die Schau war sechs Uhr morgens, und das Fitting am Vorabend dauerte bis nach Mitternacht. Als sie in ihr Hotel kam, hatte der Room-Service schon geschlossen. Also wieder keine warme Mahlzeit, wie schon seit vier Tagen nicht, seit die Couture-Woche begonnen hat.

In dieser Woche finden zu all den anderen Terminen auch noch Foto-Shootings statt. So wie gestern, als Patrick Demarchelier sie zwischen zwei Dior-Défilés fotografierte. Danach musste sie, nur aufgehalten von ein paar Fotografen, sofort weg. Sie wurde im Hôtel de Crillon schon erwartet, für die Schau von Giambattista Valli. Ständig überlagern sich Termine. „Ich bin müde“, sagt sie, „aber glücklich. Deshalb spüre ich die Müdigkeit nicht.“

Man kennt solche Sätze von jungen Müttern. Kati Nescher ist 28 Jahre alt und erst vor einem Jahr richtig in die Modelbranche eingestiegen. Sie hat einen zweijährigen Sohn, Theo, der während der Couture-Woche bei seinem Vater in Passau ist. Seit kurzem formuliert er seine ersten einfachen Sätze, während Kati ihre ersten Interviews gibt. Vor ihr auf dem Tisch liegt eine Tüte Popcorn, die sie sich an einer Touristenbude gekauft hat. Sie bestellt einen frischen Orangensaft und blinzelt ins Licht: „Ein paar Stunden Schlaf wären nicht schlecht.“ In den vergangenen zwei Wochen war sie viel unterwegs, in New York, Yorkshire, Paris und auf Long Island. Sie hat mit Peter Lindbergh gearbeitet, den sie bewundert. Zwischen ihren Jobs ist sie zweimal nach Hause geflogen. Um möglichst oft bei Theo zu sein, verbringt sie noch mehr Zeit in Flugzeugen als ihre Kolleginnen. Ständig ist sie in der Luft für etwas mehr Bodenständigkeit in ihrem Leben, für einen Tag auf dem Spielplatz oder einen Spaziergang im Wald. Vom Vater des Kindes lebt sie getrennt. Er hat gerade ein Jura-Studium abgeschlossen, in Passau, während sie in München-Neuhausen eine Wohnung gemietet hat, in der Nähe von Theos Großeltern väterlicherseits. Alle paar Wochen fliegt ihre Mutter aus Russland ein, um nach Theo zu schauen. Zwei Frauen auf Reisen – für eine Modelkarriere! Lohnt sich der Aufwand überhaupt? „Auf jeden Fall“, sagt Kati. „Ich bin glücklich mit dem Modeln, auch wenn es manchmal hart ist.“ So wie neulich, als sie mal wieder ihre Sachen packte und Theo sie fragte: „Mama, New York? Mama, Paris?“ Sie schweigt für einen Augenblick. – „Ich vermisse Theo sehr. Aber eines Tages wird er verstehen, dass ich für uns beide arbeite.“

Kati wurde 1983 in Russland geboren, in einer Kleinstadt an der Wolga, etwa anderthalb Autostunden von Moskau entfernt. Ihr Vater ist Ingenieur, ihre Mutter leitet eine Bibliothek. Nach dem Schulabschluss wollte sie zunächst studieren, Journalismus in Moskau, aber dann entschied sie sich doch für ein Auslandsjahr. Im November 2002 zog sie zu Freunden ihrer Familie nach München-Gräfelfing. Sie sprach kein Wort Deutsch und besuchte Sprachkurse. Als das Jahr vorbei war, hatte sie einen Freund und beschloss, in Deutschland zu bleiben. Sie schrieb sich an einer Fachakademie für Übersetzen und Dolmetschen ein und jobbte als Babysitterin, Messehostess, Dolmetscherin für russische Geschäftsleute und Event-Organisatorin. Freunde aus der Modebranche schusterten ihr auch ein paar kleine Modelaufträge zu. Aber als sie sich bei einer Modelagentur vorstellte, wurde sie wegen ihres Alters, damals Mitte zwanzig, abgelehnt. Also nahm sie weiterhin Gelegenheitsjobs wahr und studierte. Bis sie schwanger wurde. Theos Geburt, im Januar 2010, sei das bislang schönste Ereignis ihres Lebens gewesen, sagt sie. Sie blieb erstmal zu Hause, aber nach einigen Monaten stand sie vor Problemen, über die sie nicht sprechen möchte. Sie deutet nur an, wie sie sich fühlte: „Ich musste mein Leben verändern, ich wollte wieder finanziell unabhängig sein.“ In einer Zeitschrift las sie einen Artikel über Ann-Kathrin Fischer, die in Dormagen eine Modelagentur mit nur einer Handvoll Mädchen leitet. Klein, aber international erfolgreich. Kati meldete sich bei ihr, und diesmal klappte es: Sie durfte Model werden! Die Agentin suchte die feinsten Adressen heraus, die sie hatte, darunter ein Prada-Kontakt: „Ich dachte mir“, sagt sie, „fangen wir einfach ganz oben an!“ Das war der richtige Instinkt: Im Juli 2011 reiste Kati zur Couture-Saison nach Paris und wurde gebucht. Zwei Monate später lief sie in knapp 20 Prêt-à-Porter-Schauen. Sie fiel auf und fing an zu reisen: „Kati in Amerika“, „Kati in Italien“, „Kati in Paris“ – wie Astrid Lindgrens Romanfigur, nur viel schneller und hin und her. Sie ergatterte zwei der begehrtesten Kampagnen, Prada und Louis Vuitton, und war zum Auftakt des Modejahres 2012 in 63 Prêt-à-Porter-Schauen zu sehen. Der Laufsteg wurde für sie zum Fließband. Ihre Dauerpräsenz auf den Runways in London, Mailand, Paris, New York brachte ihr in der „New York Times“ den Titel „Queen of Fashion Weeks“ ein. Jetzt zählt sie zu den begehrtesten Models der Welt. „Schon lustig“, sagt sie, „in München erkennt mich niemand, wenn ich mit dem Kinderwagen über die Straße gehe“ Aber neulich, am JFK-Flughafen, habe der Passkontrolleur sie mit einem freundlichen „Welcome back! How have you been?“ durchgewinkt. Sie mag solche Begegnungen, „zufällige Ereignisse“, wie sie sagt. Am Vormittag hat sie Milla Jovovich kennengelernt. Ein Auto hielt neben ihr, ein Mann stieg aus, stellte ihr Milla vor, „dann haben wir uns zehn Minuten lang über den Chanel-Nagellack unterhalten“. Sie zeigt ihre Hände, die aber schon wieder ablackiert wurden, bei Armani. Dafür sieht man ihren Totenkopfring. Sie ist ein Grunge-Mädchen und hört gern Nirvana.

Als sie sich auf den Weg zu ihrem nächsten Termin macht, einem Fitting für eine Modenschau von Elie Saab, nimmt sie die Metro. Ihren Chauffeur hat sie nach Hause geschickt. „Ich möchte das normale Leben um mich spüren“, sagt sie, „die Leute beobachten und sehen, was passiert. I like playing around.“ Wenn Kati spricht, mit leichtem russischen Akzent, baut sie stets englische Sätze ein. Sie wickelt sich Haarsträhnen um die Finger, rutscht auf dem Stuhl hin und her, trinkt Cola, sucht nach Namen von Orten, an denen sie gewesen ist, nascht von ihrem Popcorn, denkt weiter nach und zuckt dann doch mit den Achseln: „Meine Booker haben die Info!“ So dünn und quirlig, wie sie ist, erinnert sie an Holly Golightly aus „Frühstück bei Tiffany“, einem ihrer Lieblingsfilme. Auf der Straße spricht sie die Leute an: „Sorry, do you know where Elie Saab is?“ Zwei junge Französinnen fangen an zu tuscheln. Sie scheinen zu bemerken, dass ein waschechtes Model vor ihnen steht. Kati trägt noch den Armani-Look. Allmählich löst sich die Steckfrisur auf, rechtzeitig für Elie Saab.

Hier empfängt Maida Gregori Boina sie, eine feste Instanz in Paris, die seit vielen Jahren Models castet. Man erkennt sie schon von weitem an ihrer wuchtigen Figur und dem Tuch, das sie sich stets um den Kopf wickelt. Sie nimmt Kati in den Arm: „Hello, darling! How have you been?“ Die Casting-Agenten sind die eigentlichen Kontrolleure im Modelbusiness, die Türsteher. Sie beraten die Designer bei der Auswahl ihrer Models und entscheiden, welches in die Welt der High Fashion darf. Sie entdecken – in immer kürzeren Abständen – die Topmodels von morgen. Nicht aus Lust und Laune, sondern weil sie so auch ihren eigenen Ruhm vermehren. Ständig neue „Topmädchen“. Die Supermodels von früher kennt jeder: Claudia Schiffer, die Brave. Naomi Campbell, die Diva. Aber Joan Smalls, die derzeitige Nummer eins?

Ein Accessoire, das während der Couture-Woche häufiger gezeigt wird, ist der Gesichtsschleier. Er wirkt feierlich, wie bei Hochzeiten oder Beerdigungen, lässt die Models aber ununterscheidbar werden. Hinter welchem Schleier steckt welches Gesicht? Auf „models.com“ beschwert sich ein Nutzer, dass die Models der Chanel-Kampagne alle gleich aussähen. Kati erzählt, dass Karl Lagerfeld sich für die Fotos vom Kubismus hat inspirieren lassen, von jener Kunstrichtung also, deren Vertreter ihre Motive in einzelne graphische Elemente zerlegten, in ihre wesentlichen Formen. Sie ist sehr glücklich über die Zusammenarbeit und ihm sehr dankbar: „Karl hat mir Bücher geschenkt, er ist sehr freundlich, stets erkundigt er sich nach meinem Sohn.“ Ihre grünen Augen strahlen. Er hat für die Kampagne sechs Models fotografiert, während er sonst fast immer ein einziges zum Chanel-Mädchen kürt. Nachdem er in der Vergangenheit schon für Massenanbieter wie H&M oder Macy’s gearbeitet hat, scheint er nun auch das Modelbusiness demokratisieren zu wollen. In seiner Couture-Schau dürfen nur wenige Models zwei Looks vorführen. Für die meisten bleibt es bei einem Outfit. Einmal Chanel, zwei Minuten lang. Einer Linda Evangelista oder Carla Bruni hätte das nicht gereicht. Aber die Models von heute wissen um die Fragilität ihres Ruhms und mucken nicht auf. Sie haben weniger Allüren, versprühen aber auch weniger Glamour. Keine berühmten „boyfriends“ backstage. Keine Szenen. Sie schlüpfen in ihre Jeans und Blazer und verschwinden mit einer Wasserflasche in der Hand durch die Hintertür. Wie Schülerinnen kurz vor acht. Nur schnell los!

Alle haben es eilig während der Couture-Woche, besonders die Blogger: Gleich nach der Schau posten sie los: „Sophia Loren bei Armani!“ Und dazu ein Foto, auf dem die Grande Dame aber gar nicht zu sehen ist, sondern nur ihr Hut. Ann Fischer, Katis Agentin, ist auch so eine Schnelle, eine Modelfrau 2.0: jung, gutaussehend und ständig mit Mails und SMS beschäftigt, wenn sie nicht gerade in deutschen Innenstädten nach neuen Models Ausschau hält. Wird sie fündig, fotografiert und filmt sie das Mädchen und schickt das Material überall dorthin, wo Models gemacht werden: zu Agenturen in Paris und New York, zur deutschen „Vogue“ nach München, in die New Yorker Redaktion der Website „models.com“ oder zu Castingagenten wie Maida Gregori Boina. Die Empfänger sehen sich an, wie sich das neue Mädchen vor der Kamera bewegt, wie es lächelt und spricht. Im Idealfall schlagen sie direkt zu. Das kommt häufiger vor. Für Magazin-Jobs und Kampagnen werden gerne neue Gesichter ausgewählt, die noch niemand kennt, deren Fotos erst seit kurzem im Netz kursieren, ja die vielleicht in dem Moment, in dem sie für eine Kampagne von Calvin Klein gebucht werden, noch irgendwo ganz weit weg in der Schule sitzen und büffeln. So erging es dem Hamburger Model Toni Garrn vor fünf Jahren.

Ann Fischer kennt ähnliche Situationen: „Meine Jüngste“, erzählt sie, „ist vor kurzem für eine Strecke mit Patrick Demarchelier gebucht worden, als sie noch im Flugzeug nach New York saß.“ Sie spricht von ihren Models stets so, als ob es ihre Kinder wären: „meine Jüngste“, „Schatz“, „meine Älteste“, „jetzt ist sie flügge“. Kati ist ihr ganzer Stolz. Als sie für diesen Artikel noch einmal die Bilder betrachtet, die sie von ihr gemacht hat, schickt sie die SMS: „Ich bin so glücklich. Kati ist es. Nur sie!“

Bei Elie Saab probiert Kati ein langes Abendkleid an, mit viel Spitze, Perlen und Kristallen. Ein Prinzessinnen-Kleid. Manchmal, sagt sie, frage sie sich: „Warum ich? Und was hat das Leben noch mit mir vor?“ Sie plant von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde. Von Paris aus wird sie nach Sizilien reisen, natürlich zum Arbeiten. Schon bald möchte sie sich in New York ein Apartment suchen und Theo dann mitnehmen. In Manhattan finden viele Shootings statt. Hier hofft sie, ihre zwei Leben noch besser in Einklang bringen zu können. Sie kann sich jetzt ja auch teure Nannys leisten. Sie hat es geschafft, für’s erste allemal. Als sie das Atelier von Elie Saab verlässt, kann sie ihr Glück kaum fassen: „I am done for today. Und draußen ist es noch hell!“

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Kontakt

Kerstin Susanne König
Berlin
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