Im Geisterhaus der Modernisten
Veröffentlicht am 10. Februar 2008
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Der unheimlichste Berlinale-Beitrag stammt von dem Künstler Olaf Nicolai.
Wer war Alexis Rodakis? Le Corbusier hat ihn gerühmt, und Sigfried Giedion tat beinahe so, als hätte der Mann die Architektur der Moderne begründet. Das Problem ist nur: Eigentlich ist über diesen Rodakis so gut wie nichts bekannt. Nicht einmal ein Foto existiert. Es gibt nur ein sonderbares Haus auf der griechischen Insel Ägina, das unter seinem Namen zum Mythos geworden ist.
Mythen unterliegen der Zuständigkeit der Kunst genauso wie des Kinos – und so kommt es, dass im Kurzfilmforum der Berlinale heute und am Donnerstag ein Film über Rodakis läuft, den der Berliner Künstler Olaf Nicolai gemacht hat. Er dauert nur zwölf Minuten und verläuft von Anfang an äußerst ruhig: Grillen zirpen, Gräser rascheln, ansonsten ist nichts zu hören. Sonnenverbrannter Süden, gelbliche Farben, ein paar Pinien vor azurblauem Himmel. In der Mitte steht eine Ruine und wirft lange Schatten. Dann, aus dem Off, die BBC-dokumentarfilmartige Stimme eines Erzählers, der Zug um Zug die Lebensgeschichte desjenigen aufrollt, der das Anwesen um 1880 erbaut haben soll: Alexis Rodakis, natürlich (Griechenland!) der Sohn eines Seefahrers. Die Poesie sei seine Inspirationsquelle gewesen, daher auch die schönen Skulpturen, eine davon an jeder Ecke des Flachdachs: ein Schwein für das Glück, eine Schlange für das Böse, eine Uhr für die Zeit, eine Taube für den Frieden. Und so weiter. Der Erzähler ist äußerst mitteilsam, spart Wesentliches trotzdem aus, zum Beispiel die Tatsache, dass Rodakis seine Existenz vor allem der Erinnerung oder Einbildung der Architekturhistoriker verdankt, und endet mit dem Hinweis auf einen vermuteten Selbstmord. Die Unvollständigkeit der Erzählung entspricht der Brüchigkeit des Gebäudes, und das Unbehagen, das sich einem aufdrängt, könnte damit zu tun haben, dass sich hier die Genres „Lehrfilm für die Oberstufe“ und „Geisterbeschwörung“ kreuzen. Nicolai greift die Gattung des Dokumentarfilms einerseits auf, um sie andererseits zu unterlaufen: Erst im Abspann, also dann, wenn der Spuk schon wieder vorbei ist, wird dem Zuschauer mitgeteilt, dass die erzählte Lebensgeschichte das ist, was eine gewisse Antonia S., ein ortsansässiges Medium des Übersinnlichen mit Zugang zur Seele des Verstorbenen, in den Ruinen erlauscht haben will. Das steht natürlich vollkommen in der Tradition der griechischen Mythologie und erinnert nicht zufällig an Orakel, blinde Seher und Weissager wie Teiresias. Indem Nicolai also offene Hellseherei an die Stelle der vermeintlichen Tatsachen treten lässt, die einem normalerweise als Geschichte präsentiert werden, stellt er nebenbei ein ganzes scheinsachliches Métier vom Kopf auf die Füße, und die heißen immer noch Mythos und Mysterium.